Dipl.-Psych. Hans-Reinhard Schmidt
Zur angeblich spezifischen Methylphenidatwirkung (Ritalin)
Erst kürzlich habe ich wieder von einer
Mutter gehört, deren Kinderarzt ihr empfahl, beim unruhigen
Söhnchen einfach mal Ritalin auszuprobieren, und wenn es wirke,
sei die Diagnose "ADHS" damit bestätigt. Dieser
Irrglaube steckt in sehr vielen Elternköpfen (und Ärzteköpfen
wohl auch noch), das habe ich immer wieder festgestellt.
Die meisten Eltern glauben, um Ritalin geben zu können, bedürfe
es der Diagnose "ADHS", und wenn das Mittel wirkt,
wäre klar, dass ihr Kind an "ADHS" leidet. Ein fataler
Zirkelschluss.
In einem früheren Beitrag habe ich mich mit diesem Problem
bereits auseinander gesetzt. Seriöse wissenschaftliche Studien
zur spezifischen Wirkung von Methylphenidat bei "ADHS"
sind aus verständlichen Gründen sehr selten. Schließlich kann
man gesunden Kindern zu wissenschaftlichen Zwecken nicht Ritalin
geben (obwohl genau dieser Großfeldversuch derzeit weltweit
unkontrolliert läuft!). Deshalb ist die Studie von KLEIN RG u.a. so kostbar und aufschlussreich.
Diese Autoren haben die Hypothese überprüft, derzufolge
Stimulanzien bei antisozialen Verhaltensstörungen ("conduct
disorder", das sind aggressive, gewalttätige, kriminelle
oder zerstörerische Kinder) nicht hilfreich seien. Man geht
gewöhnlich davon aus, dass Methylphenidat, das bei Kindern mit
"ADHS" wirkt, auf die Symptomatik solcher antisozialer
Verhaltensstörungen keinen hilfreichen Einfluss hat.
Methylphenidat soll also ganz spezifisch auf die
"ADHS"-Symptomatik wirken.
84 Kinder mit antisozialer Verhaltensstörung, wovon 2 Drittel
auch ADHS hatten, das andere Drittel aber nicht, wurden 5 Wochen
lang mit Methylphenidat bzw. Placebo behandelt und in ihrem
Verhalten von Lehrern, Eltern und Klinikern genau beobachtet. Die
Erwartung war also, dass sich das Medikament nur auf die
"ADHS"-Symptomatik auswirken dürfte. Ganz entgegen
dieser Erwartung zeigte sich aber eindeutig, dass das Medikament
die Symptomatik der antisozialen Verhaltensstörung bei allen
Kindern bedeutsam reduzierte, unabhängig davon, ob ein Kind auch
noch "ADHS" hatte oder nicht.
Methylphenidat hat demnach auch eine eindeutige Wirkung auf die
Symptome einer gewöhnlichen Verhaltensstörung, und nicht nur
auf die Symptomatik von "ADHS". Dies zeigt sehr
deutlich, dass Methylphenidat unspezifisch wirkt und seine
Wirkung keinen diagnostischen Rückschluss erlaubt. Sonst müsste
man ja gemäß der bisherigen "ADHS"-Logik folgern,
diese Untersuchung hätte bestätigt, dass die Wirkung von
Methylphenidat die Diagnose einer antisozialen Verhaltensstörung
begründe. Und das sagt ja sicher keiner. Aber wenn es um
"ADHS" geht...
Oder allgemein: Eltern, bei deren Kind Methylphenidat
symptomdämpfend wirkt, können nicht schon deshalb davon
ausgehen, dass "ADHS" vorliegt. Es kann auch eine ganz
"gewöhnliche" psychogene Verhaltensstörung sein, für
die das Medikament gar nicht gedacht (und vielleicht langfristig
auch hirnschädigend) ist. Noch allgemeiner: Methylphenidat wirkt
immer, egal ob einer was hat oder nicht. Prof. Dr. G. Hüther,
der bekannte Göttinger Hirnforscher, fasst dies lakonisch so
zusammen: "Ritalin bügelt alles flach."
So ist das eben mit einem Psychopharmakum.