Dipl.-Psych. Hans-Reinhard Schmidt
ADS-Paradigmawechsel. Oder: Der Storch bringt keine Kinder
Sie kennen das Beispiel vielleicht schon: Wenn die Störche im
Frühjahr aus dem Süden zurückkommen, steigt in unseren
Gefilden die Geburtenrate. Wer nicht weiter nachdenkt, könnte
glauben, damit sei bewiesen, dass der Storch die Kinder bringt
(dieses Märchen ist tatsächlich so entstanden).
Der Denkfehler dabei ist natürlich, dass aus zwei gleichzeitigen
Ereignissen geschlossen wird, dass das eine das andere
verursacht: man vermutet spontan einen kausalen Zusammenhang.
Sehr oft liegt man für die Bedürfnisse des Alltags damit auch
durchaus richtig. Wenn ich einen Topf Wasser auf den Herd stelle
und den Herd anschalte, verursacht die Hitze des Herdes
selbstverständlich das Kochen des Wassers. Im Beispiel der
Störche werden aber beide Ereignisse gemeinsam durch ein drittes
Ereignis bedingt (z.B. klimatische Verhältnisse), ein direkter
kausaler Zusammenhang zwischen ihnen besteht gar nicht. Die
Länge der menschlichen großen Zehe steht z.B. in einem
statistischen Zusammenhang mit dem Intelligenzquotienten, aber
einen kausalen Zusammenhang wird wohl niemand behaupten.
Keine Kausalitäten
Ich erwähne dies, um verständlich zu machen, dass es sich mit
den bisherigen neurobiologischen Forschungsergebnissen bei
"ADHS" wahrscheinlich genau so verhält: Aus dem
gleichzeitigen Vorhandensein von z.B. Veränderungen des
dopaminergen Hirnsystems und hyperaktivem Verhalten hat man einen
kausalen Zusammenhang in dem Sinne behauptet, dass die
Hirnfunktionsbesonderheiten die Ursache für die Hyperaktivität
seien, obwohl beides auch durch etwas Drittes bedingt sein
könnte und zwischen ihnen überhaupt kein kausaler Zusammenhang
bestehen muss. Dass allein schon wissenschaftstheoretisch diese
Möglichkeit besteht, sollte eigentlich Aussagen der Art, dass es
eine bewiesene Tatsache sei, dass "eine genetisch bedingte
Hirnstoffwechselstörung als Ursache von ADHS" anzusehen
ist, verbieten. Schließlich ist trotz 60jähriger Forschung kein
eindeutiger biologischer Marker gefunden worden, der eine solche
kausale Tatsachenbehauptung rechtfertigen würde. Vielmehr
können alle bisher gefunden hirnfunktionellen Besonderheiten als
Korrelate (als hirnfunktionelle Repräsentationen) von etwas
"Drittem", nämlich den Erfahrungen bzw. Lernprozessen
(oder, wie Hüther sagen würde: Nutzungsbedingungen), die auf
das Gehirn eingewirkt haben, betrachtet werden.
Diese These, die durch immer mehr Forschungsergebnisse der
Neurowissenschaften belegt wird, ist so bedeutsam, dass man sie
ohne Übertreibung als Paradigmenwechsel in der gegenwärtigen
Wissenschaft vom Menschen bezeichnen kann. Es ist denn auch
bezeichnend, wie stark die Abwehrkräfte sind, die eine solch
beunruhigende These weckt, und wie heftig sie geleugnet oder als
falsch hingestellt werden muss, damit man nicht dazulernen und
umdenken muss. Hatte die "alte" Auffassung doch den
Vorteil, einfach und "logisch" zu sein, eine simple
Therapie (Methylphenidat) anbieten zu können, Eltern (allgemein:
das psychosoziale Milieu) zu entlasten sowie durch eine Unmenge
von Forschungsergebnissen scheinbar eindeutig belegt zu sein.
Und nun kommen Neurowissenschaftler daher und sagen, dass alles
nicht ganz so einfach sei, wie man bisher geglaubt hat. Das
menschliche Gehirn sei genetisch viel weniger programmatisch
fertig und verhaltens-verursachend, sondern zeitlebens
"plastisch", also je nach Input veränderbar. Dieser
Input sei es, auf den es ankomme. Nicht angeborene, genetisch
bedingte Besonderheiten des dopaminergen Systems verursachen
"ADHS", sondern ein Wechselspiel von (nicht
ADHS-spezifischer) genetischer Grundausstattung und
anschließendem Input, wobei dieser Input viel wichtiger ist, als
man bisher für möglich gehalten hat.
Umdenken fällt schwer
Für das Verständnis dessen, was gegenwärtig unter
"ADHS" verstanden wird, hat dieser Paradigmenwechsel in
der Medizin umwälzende Bedeutung. Er besagt, dass
"ADHS" nicht genetisch bedingt sein muss, dass die
bisherigen Forschungsergebnisse "ADHS" nicht belegen
müssen, dass Psychopharmaka nicht im Vordergrund einer
Behandlung stehen müssen, dass Umwelteinflüsse auf die
neuropsychologische Entwicklung unserer Kinder einen
ausschlaggebenden Einfluss haben, dass Erziehung in Familie,
Kindergarten und Schule, Familienpolitik und das gesamte
psychosoziale Milieu den Ausschlag dafür geben, wie sich unsere
Kinder (eben auch hirnphysiologisch) entwickeln. Mit den
Erkenntnissen neuer wissenschaftlicher Hirnforschung untermauert
ist der psychosoziale Umweltfaktor wieder gefragt. Fast hatte die
konventionelle Medizin ihn vergessen. Auch beim Konstrukt
"ADHS".
Erfahrene Fachleute, die mit "ADHS"zu tun haben,
praktizieren diesen Paradigmawechsel in Wirklichkeit seit langem,
obwohl sie in der Öffentlichkeit mehr oder weniger den Eindruck
erwecken, sie benötigten dazu das traditionelle ADHS-Konstrukt.
Döpfner setzt bei der Mehrzahl (mindestens 60 Prozent) seiner
sicher besonders ausgeprägten "ADHS"-Kinder keine
Psychopharmaka ein, beim Rest nur ergänzend. Seine ADHS-Therapie
ist nichts anderes als Psychotherapie mit gelegentlicher
medikamentöser Unterstützung. Krowatschek kommt bei ca. bisher
5000 Kindern gänzlich ohne Medikamente aus. Seine Methode ist
eine reine psychotherapeutisch orientierte Übungsmethode, für
deren Begründung es des ADHS-Konzepts überhaupt nicht bedarf.
Bonney behandelt die Kinder mit einer kommunikationstheoretisch
(aber auch anders) begründbaren Psychotherapie ohne jedes
Medikament und ohne wirkliche Notwendigkeit des ADHS-Konzepts.
Diese und sicher viele andere Psychotherapeuten erzielen
überzeugende Heilungserfolge, ohne das ADHS-Konstrukt in
Wirklichkeit zu benötigen. Für die psychotherapeutische Praxis
hat das ADHS-Konzept keinerlei wirkliche Bedeutung. Die Praxis
aller gängigen Behandlungen lässt sich völlig ohne das
fragliche ADHS-Konzept begründen. Aus meiner eigenen
Familienberatungssstelle kenne ich genügend Kinder und Familien,
bei denen mit klassischen Psychotherapiemethoden (insbesonders
Familientherapie) bei "ADHS" (ohne diese Diagnose
jemals zu benötigen) Heilung erzielt werden konnte.
Seit langem belegte
Bedeutung des Umwelteinflusses
Dass dem Faktor "Umwelt" eine herausragende Bedeutung
zukommt, haben ja nicht zuletzt Esser u. Schmidt bereits vor
einigen Jahren sehr schön nachgewiesen. Sie unterschieden die
beiden Faktoren Anlage (=Teilleistungsstörungen TLS) und Umwelt
(=widrige familiäre Bedingungen FAI). Ihre
Längsschnittuntersuchung zeigte sehr schön das Zusammenspiel
beider Faktoren bei Kindern: Wenn ein 8jähriges Kind keine TLS
und günstige FAI hatte, war die Wahrscheinlichkeit zur
Ausbildung einer psychischen Störung etwa 10 Prozent; wenn
sowohl TLS als auch ungünstige FAI vorlagen, 90 Prozent! Wenn
zwar TLS, aber günstige FAI vorlagen, war die Wahrscheinlichkeit
38 Prozent, wenn nur ungünstige FAI, aber keine TLS vorlagen, 50
Prozent.
Der Umweltfaktor FAI zeigte sich also als stärker als der
Anlagefaktor TLS.
Bei der 2. Untersuchung derselben Kinder mit 13 Jahren zeigte
eine querschnittliche Betrachtung, dass mit 8 Jahren bestandene
ausschließliche TLS bei günstigem FAI ihren Vohersagewert
verloren hatten, während der Wert widriger familiärer
Bedingungen erhalten geblieben war. Das bedeutet also, dass
Teilleistungsstörungen nur im Zusammenhang mit widrigen
familiären Bedingungen einen Effekt hatten.
Literatur:
H. Bonney (2000): Neues vom "Zappelphilipp" - Die
Therapie bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen (ADHD) auf
der Basis von Kommunikations- und Systemtheorie. Prax
Kinderpsychol Kinderpsychiat 49, 285-299
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In: Rotthaus, W. (Hg.) Systemische Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme,
386-404
M. Döpfner et. al. (2000): Hyperkinetische Störungen. Hogrefe
M. Döpfner: Persönliche Mitteilung, 2001
G. Esser, M.H. Schmidt: Epidemiologie und Verlauf
kinderpsychiatrischer Störungen im Schulalter - Ergebnisse einer
Längsschnittstudie. Nervenheilkunde 1987, 6, 27-35.
G. Hüther u. E. Rüther: Das serotonerge System. Uni-Med-Verlag
2000
G. Hüther: Kritische Anmerkungen zu den bei ADHD-Kindern
beobachteten neurobiologischen Veränderungen und den vermuteten
Wirkungen von Psychostimulantien (Ritalin). Analyt. Kinder- u.
Jgdl.-Psychotherapie 114, 4/2001
G. Hüther u. H. Bonney: Neues vom Zappelphilipp. Walter 2002
D. Krowatschek: Alles über ADS. Walter 2001.
J. C. Rüegg: Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn: Neuronale
Plastizität als Grundlage einer biopsychosozialen Medizin
Schattauer 2001